Erfahrungsbericht einer Kursteilnehmerin: IM ANGESICHT MEINER ELTERN

Kind meiner Eltern, von ihnen geformt – und jetzt liegt ihre Gestaltwerdung in meinen Händen. Es ist eine besondere Erfahrung, das Gesicht von Vater oder Mutter zu modellieren. Der runde Geburtstag meines Vaters war mir dafür ein passender Anlass. Nicht zum ersten Mal arbeitete ich mit Ton, doch merkte ich im Alleingang schnell: Um größtmögliche Ähnlichkeit zu verwirklichen, brauche ich Unterstützung. So kam ich zu Gabriele Schmitz-Reum ins Atelier Sternentor in Dortmund Oespel.

Gabriele machte mich mit der Proportionslehre Leonardo da Vincis vertraut, mit Streckenverhältnissen zwischen markanten Punkten im Gesicht. Es sind die Abweichungen von diesen Idealmaßen, die das Individuelle, Charakteristische an einem Gesicht ausmachen. Bei meinem Vater sind das zum Beispiel der Augenabstand, der Abstand zwischen Unterlippe und Kinnkante oder die große Stirn.

Gabriele hat eine eigene Vorgehensweise für den Aufbau einer stehenden Kopf-Skulptur. Hierbei wird zunächst ein Gerüstkreuz aus zwei Tonplatten erstellt. Die eine wird nach den Konturen des Profils ausgeschnitten, die andere bildet den Schattenwurf der Frontalansicht ab. In diese gekreuzten Platten werden zunächst Etagen eingezogen, dann von unten herauf die „Haut“ aufgetragen.

Die allmähliche Annäherung und Formwerdung bei dieser Vorgehensweise ist ein spannender Prozess, der Moment, in dem das Gesicht zum ersten Mal klar hervortritt, ein eindrucksvolles Erlebnis, eine Begegnung der besonderen Art, geradezu magisch. Es ist eine Begegnung, die sehr tief geht, die unerwartete Gefühle in mir auslöste: Trauer über das Ungelebte in der Beziehung zwischen mir und meinem Vater, über zu wenig Zeit, die ich ihn als Vater erleben durfte.

Mit meiner Mutter muss ich schneller fertig werden, weil es bis zu ihrem runden Geburtstag nicht mehr lange hin ist. Ich entscheide mich für Paperclay. Die Modelliermasse besteht aus feinem Ton und Zellulosefasern. Feuchtigkeit wird dadurch besser im Ton verteilt. Die filzartige Vernetzung ermöglicht eine robustere Verarbeitung und sorgt für hohe Festigkeit.

Gabriele zeigt mir, wie ich das Gesicht über einem kleinen Berg nassen geknüllten Zeitungspapiers aufbaue. Das Papier gibt unter der ausgerollten Paperclay-Schicht schön nach und hält das Material außerdem feucht. Nach jeder Weiterbearbeitung im Atelier wird die Skulptur mit einem feuchten Tuch bedeckt und mit einer Plastikplane umhüllt, damit die Plastik nicht vorzeitig hart wird.

Bei meiner Mutter arbeite ich dadurch viel schneller „face to face“. Während ich mich an ihrer Nase, ihren Lippen, dem linken Auge versuche, immer wieder mit groß ausgedruckten Fotografien abgleiche, überkommt mich ein Gefühl der Befriedigung, ja die überraschende Erkenntnis: „So nah hat sie mich nie an sich herangelassen.“ Jetzt erst wird mir bewusst, wie sehr mich meine Mutter emotional auf Distanz hielt, während ich mich nach ihrer Nähe sehnte.

Und so genieße ich es jetzt, ihr Gesicht in meinen Händen zu halten, empfinde ganz viel Zärtlichkeit, während ich ihre Züge streiche. Eigentlich wollte ich keine Falte auslassen. Bei meinem Vater hatte Gabriele mir gezeigt, worauf es da beim Modellieren ankommt. Doch bei ihm wie bei meiner Mutter glätte ich Wangen und Stirn wieder. Jede Furche und Schwellung tritt, modelliert mit bleichem Ton bzw. Paperclay, umso deutlicher zutage. Es fällt mir schwer, meine Eltern so alt aussehen zu lassen …

Als ich die Arbeit an meiner Mutter abgeschlossen habe, den Hinterkopf mit Haaren erstellt und an das Gesicht angefügt habe, möchte ich sie am liebsten immer bei mir behalten. Doch es ist auch ein gutes Gefühl, ihr das neue Bild zu übergeben, das ich mir von ihr modelliert habe.

Als nächstes wage ich mich vielleicht an ein Selbstbildnis: Der Vorschlag kommt von Gabriele. Sie warnt mich vor: Alles, was man an sich selbst nicht so gerne sieht, muss dann angesehen werden.